Ein Hörstück, das in einer unbekannten Berliner Bar am 26. April 1986, dem nicht für möglich gehaltenen Tag des Reaktorunfalls in Tschernobyl, spielt, das auf eine Musikkassette einer nicht existenten Neuen-Deutschen-Welle-Band namens Störbild aus dem Jahre 1985 überspielt ist, die sich wiederum in einem Buch eines fiktiven französischnamigen Autoren befindet, dessen 1984 geschriebene Gesamtausgabe seines Schaffens im nie gegründeten Berliner Eigenmannverlag erscheint: nichts stimmt hier, noch nicht einmal die Postkarte aus dem schönen Albach, die mit falschem Poststempel auf einer original 60-Pfennig-Briefmarke an einen gewissen Peter Stamer geschickt wird.
Den wiederum gibt es. Ursprünglich 2020 als Theaterstück für vier Darsteller*innen geplant, zwang ein nunmehr sehr bekanntes Virus den Autor und Regisseur Peter Stamer, die Geschichte (in jedem Sinne) neu zu schreiben. Das ging allerdings nicht im Blick nach vorne, denn der war und ist ungewiss, sondern im Rückbezug auf vermeintlich Bekanntes, auf eine Zeit also, die die aktuelle Krisen- und Verlusterfahrung merkwürdig präfiguriert: Tschernobyl und das Lebens- und Sprachumfeld der mittleren 80er Jahre erscheinen ihm wie die richtig falsche historische Folie, um Geschichte und Geschichten auszuprobieren. In diesem Trainingscamp für die an den Wasserstellen des Lebens Schutzsuchenden sind die Charaktere und Ereignisse, die in Hörstück, Musikkassette, Postkarte und Buch auftreten, frei erfunden. Nun, einige ...
Postkarte, 4-farbig, Originalhandschrift, 60-Pfennig-Briefmarke, gestempelt
2. November 1986 wird auf dem Postamt Neustadt an der Schlaiss eine Postkarte aus Albach o.d. Tauber an Peter Stamer, Freiligrathstrasse 5, 1000 Berlin 61 mit folgendem Inhalt abgestempelt: "Lieber Peter, wenn ich wieder von meinen Eltern zurück bin, müssen wir reden, so kann es nämlich nicht weitergehen. Ich habe mir in den letzten Wochen sehr den Kopf zerbrochen... . Ich melde mich nochmal, bevor ich ankomme. PS: Wo ist eigentlich das Mixtape?" Der Verfasser oder die Verfasserin dieser Zeilen konnte nie festgestellt werden. Man sagt aber, dass verschiedene Versionen dieser Postkarten in Umlauf gesetzt wurden. Eine dieser Postkarten findet sich in dem Buch Gesamtausgabe von Jean Pierre Sedan wieder.
Musikkassette, Ferro C-60, 14 Songs, deutsch, 1985
Anfang der 80er von Hans "Fräulein" Ellwanger und Gerhard "André" Bodenwieser gegründet, bringt die deutsch-österreichische Band "Störbild" nach "Mehlspeise" 1985 ihre zweite LP und MC "Retorte" heraus. Die 14 Songs spüren dem Alltag der Bundesrepublik nach, so sind bei "Mann ohne Namen" oder "Retortenkind" (Singleauskopplung) sozialkritische Töne zu hören, während "Du warst toll" die Geschichte eines jungen Mannes behandelt, der nach vielen Jahren wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt. Eröffnet wird die Platte von dem Knaller "Es is' egal", den Ellwanger und Bodenwieser innerhalb eines Morgens in ihrer Küche geschrieben haben. Der Text fiel ihnen ein, als eine Nachbarin ihren Mülleimer im Hof leerte, die Hälfte daneben ging und sie den Müll einfach liegen ließ: Die Lieblingsnummer von Hans und Gerhard. Diese MC samt Hülle liegt in einer von irgendeiner Hand mühsam herausgeschnittenen Aussparung in dem Buch Gesamtausgabe von Jean Pierre Sedan. Jedoch ist sie nicht mehr originalverpackt ...
Hörstück auf Musikkassette überspielt, handschriftliche Überschreibung, Kugelschreiber,Dauer ca. 60 Minuten
"Heute ist Samstag, der 26. April 1986", unterbricht eine Frauenstimme den ersten Song der Gruppe Störbild mit einer Nachricht: "In den frühen Morgenstunden ist irgendwo in der Sowjetunion ein Atomkraftwerk explodiert. Eine gigantische radioaktive Wolke ist in den Himmel aufgestiegen und macht sich gerade auf den Weg nach Mitteleuropa." Um dann in ihr Aufnahmegerät zu diktieren, dass die Menschen, die sich an jenem Abend in der Berliner Wunderbar treffen, noch nichts von den tragischen Ereignissen wissen. Stattdessen beschäftigen sich die Sabines und Wolfgangs vielmehr mit ihren menschlichen und allzumenschlichen Geschichten, ihren Eigenheiten, Wünschen und Hoffnungen, die ihnen die Erzählerin im Laufe des 60 minütigen Hörstücks ablauscht ...
Buch, Hardcover, 448 Seiten, 2 Illustrationen
1984 bringt der Berliner Eigenmannverlag das epochale Werk von Jean Pierre Sedan zum ersten Mal als Gesamtausgabe heraus. Das Eckernhauser Tageblatt ist sich einig: "Skurril, witzig und verschroben: Ein Karussell der Missverständnisse!" Der Westlippische Anzeiger ist voll des Lobes: "Sedans Fabulierkunst sucht schon jetzt ihresgleichen in den deutschen Bücherregalen." Die exquisite Verstrickung aus Erzählungen, Gedichten, Theaterdialogen, Kurzgeschichten und Witzen wird bereits im Jahr nach ihrem Erscheinen mit dem kleinen Buchpreis der Stadt Bad Reibach 1985 ausgezeichnet. Autor Jean Pierre Sedan sitzt derzeit unter dem Arbeitstitel "Gesamtere Ausgabe" an einer Fortsetzung ...
Jean Pierre Sedan: Gesamtausgabe
Buch
Konzept & Texte: Peter StamerGrafik: Eps51Druck: Offsetdruckerei Grammlich
Störbild: Retorte
Musikkassette
Musik, Text & Gesang: Peter Stamer, Andreas Hamza Mischung & Produktion: Andreas Hamza Design: Eps51
26. April 1986
Hörstück
Es sprechen und singen: Eva Brunner, Katharina Meves, Andreas Müller, Peter Stamer Special Guest: Florian Troebinger Stimmspenden: Diego Agulló, Silke Bake, Claudia Bosse, Judith Brückmann, Mariola Groener, Andreas Hamza, Frauke Havemann, Eva-Maria Hoerster, Paula Malmberg, Thomas Martius, Christine Standfest, Julia Keren Turbahn, Theo van Laack, Frank Willens, Hannes P. Wurm Musik: Peter Stamer, Andreas Hamza Sounddesign & Mischung: Andreas Hamza Konzept, Text & Regie: Peter Stamer
Grüße aus dem schönen Albach o.d. Tauber
Postkarte
Idee & Text: Peter Stamer Handschrift: Ilya NoéGestaltung: Eps51
Mit besonderem Dank für die Unterstützung und Begleitung des gesamten Projekts an Silke Bake, Frauke Havemann, Krassimira Kruschkova und Ilya Noé